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Neid

 

Inhaltsverzeichnis

 

Neid – präsent und stark

Neid – ein schwarzes Gefühl. Dunkel und unheimlich und äußerst präsent. Missgunst und Schaden, vielleicht sogar Schadenfreude kommen auf, wenn das Objekt des Neides das verliert, worum man es beneidet. Zumindest scheint es das eigene Los leichter zu machen: Wenn der Beneidete, z. B. ein Fußballer, sein sauteures Auto verlieren würde oder weniger Geld hätte, würde es mir besser gehen, denn es wäre gerechter. Oder umgekehrt: Wenn ich genauso viel hätte und mir jeden Wunsch erfüllen könnte, wäre das Gleichgewicht in meinem Inneren, aber auch im Außen, also z. B. im Besitz, wiederhergestellt und es würde mir gut gehen.

Die Gedankengänge dazu müssen nicht einmal da sein. Vielleicht viel mehr ein Gefühl der Missgunst, der Unstimmigkeit, der Unfairness... Mehr aber auch nicht. Neid gehört wohl zu den Gefühlszuständen, die moralisch besonders verwerflich zu sein scheinen. Und er wird, vielleicht auch deshalb, selten reflektiert und in seine Bestandteile zerlegt. Außerdem hat Neid nicht nur eine individuelle Geschichte, sondern wird durch gesellschaftliche Vorgänge zusätzlich angeregt, z. B. durch unfaire Arbeitsbedingungen. Allerdings sind auch die Arbeitsbedingungen auch nur ein Spiegel unseres (individuellen und kollektiven) psychischen Systems.

An dieser Stelle wage ich einen Versuch, Neid in seine Bestandteile zu zerlegen. Beachten Sie auch bitte die Zeichnung dazu. Sie könnte helfen, meine Ausführungen besser zu verstehen. Zum Vergrößern klicken Sie darauf. Die Zeichnung ist von unten nach oben aufgebaut und ist recht komplex. Sie können sie sich gern ausdrucken. Eine weitergehende Verwendung und Vervielfältigung ist nicht gestattet. Hier können Sie sie als pdf-Datei herunterladen.

Die Ursprünge im Mangel

Bevor Neid als etwas auf jemand anders Projiziertes überhaupt Gestalt annehmen kann, muss etwas im Inneren passiert sein, das dieses Neidgefühl überhaupt erst ermöglicht. Höchstwahrscheinlich handelt es sich dabei um eine Verletzung, wahrscheinlich eine Verletzung der Liebe, die ein Mangelgefühl entstehen lässt: Wichtige (kindliche oder andere) Bedürfnisse wurden von einem nahestehendem Menschen, meist sind es die Eltern, nicht befriedigt. Der Mangel ist nicht bewusst. Er kann sich auf anderen Ebenen melden: in Beziehungen als Neid, emotional als Groll oder Trauer oder Angst, somatisiert als Schmerz im Rücken oder Bettnässen bei Kindern oder spirituell in Form einer Sehnsucht nach etwas, was man braucht, aber nicht zu kennen glaubt. Übrigens: Über die Sehnsucht – sofern man bereit ist, sie sich einzugestehen –, öffnet sich der Zugang zum ursprünglichen Mangel recht zuverlässig. Was allen Ausdrucksarten gemein ist: Es bleibt ein Fragezeichen, etwas Verdecktes, etwas, das nicht direkt zugänglich ist. Denn wenn es direkt zugänglich wäre, hätte man bewusst die Möglichkeit, den Mangel auszudrücken und ggf. im nächsten Schritt zu beheben. Andererseits hat man sich anscheinend zu einem früheren Zeitpunkt seines Lebens (unbewusst) entschieden, mit dem Mangel zu leben und ihn nicht auszudrücken, zumindest nicht direkt. Und so entscheidet man sich (unbewusst) immer wieder, für den Mangel und gegen seine Behebung.

Die Entscheidung

Wenn ich im therapeutischen Kontext von Entscheidungen spreche, meine ich keine bewussten Kopf-Entscheidungen, sondern intuitive Abwägungsentscheidungen, die wir alle in unserer frühesten Kindheit getroffen haben. Wir können uns an diese Entscheidungen nicht bewusst erinnern, sie sind aber als eine Art Grundeinstellung im Körper-Psyche-System gespeichert und werden bei Bedarf abgerufen. Sie sind die Leitlinien für unsere Wahrnehmungen, unsere Wahrnehmungsfilter, die dadurch erzeugten Emotionen, z. B. Neid, und das daraus resultierende Handeln. Bewusst ändern ("Es gibt überhaupt keinen Grund, neidisch zu sein!") lassen sie sich natürlich nicht.

Als erwachsener Mensch haben Sie aber die Möglichkeit, eine neue Entscheidung zu treffen, und zwar die Entscheidung, die alten Entscheidungen zu überdenken und ggf. sich neu zu entscheiden. Dafür müssten Sie sich dem Ursprung des Mangelgefühls nähern – was ebenfalls eine Entscheidung voraussetzt. Kaum jemand macht das freiwillig. Die Angst davor ist zu groß. Und der Kopf geht da nicht mit, da er es nicht greifen kann. Für den Kopf ist es logisch: "Ich bin neidisch, weil etwas unfair ist: Jemand hat mehr, als ihm zusteht. Ich komme zu kurz und hätte es auch gern. Wenn er es nicht mehr hätte oder ich es auch hätte, wäre alles wieder in Ordnung." Das ist eine Illusion, die tiefgehendere Prozesse und Entscheidungen verschleiert, z. B. die (unbewusste) Entscheidung, den ursprünglichen Mangel nicht zu beheben und stattdessen weiter darunter zu leiden. Ja, auch Leid ist eine (unbewusste) Entscheidung, auch wenn es sich vom Gefühlszustand her nicht so anfühlt. Außerdem bringt Leid viele Vorteile: Die anderen nehmen Rücksicht auf einen, man bekommt Mitgefühl und Empathie. Und: Man muss nichts ändern! So bleibt man auf der sicheren Seite, bis im Außen wieder ein Objekt des Neids aufflackert und den Mangel spürbar werden lässt.

Eine weitere Selbst-Täuschung besteht darin, dass Menschen sich schuldig dafür fühlen, dass sie nicht so leistungsfähig und gut sind wie die anderen. Statt Neid und Missgunst direkt zu empfinden, geben sie sich die Schuld an ihrem Zustand. Auch hier die (unbewusste) Entscheidung, nichts an der Situation zu ändern. Man leidet lieber unter dem Schuldgefühl statt die Verantwortung für die Behebung des ursprünglichen Mangels zu übernehmen.

Häufig fehlt natürlich auch das Wissen um solche Prozesse und Zusammenhänge. Was uns unsere Psyche vorspielt, fühlt sich so echt und wirklich an, dass wir nicht merken, dass das Tricks sind. Wenn Sie also diesen Text lesen, haben Sie eine Chance, die Tricks Ihrer Psyche ein Stück zu durchschauen. Es wird sich trotzdem, wenn Sie z. B. Neid oder Schuldgefühle empfinden, echt anfühlen. Sie bekommen aber gleichzeitig die Chance, eine bewusste Entscheidung treffen zu können, das ursprüngliche Problem zu beheben.

Eine Lücke in der Identität

Zum Fragezeichen der ursprünglichen Neid-Erfahrung kommt dazu – und das gilt für alle verschütteten, abgespaltenen und verdrängten Erfahrungen –, dass uns ein Teil der eigenen Identität fehlt. Die echte Identität, also das Gefühl für sich selbst, basiert auf Erfahrungen. Die Identifizierung (Ich bin Mann / Frau, Deutscher / Franzose, Fußballfan / Radfahrer, nett usw.) ist leider nur ein Ersatz für die wahre Identität. Ist eine Erfahrung, z. B. die ursprüngliche Mangelerfahrung, nicht in das Selbstbild eines Menschen integriert, fehlt ihm ein Stück seiner Identität, was wiederum auch ein Mangelgefühl erzeugt! Das ist echt verflixt, nicht wahr? Es lässt sich aber "reparieren."

Zurück zum Neid

Damit tatsächlich Neid entsteht, muss also einiges zusammenkommen (s. Schaubild). Am Anfang der Kette steht die ursprüngliche Mangelerfahrung (wahrscheinlich in einer Eltern-Kind-Liebesbeziehung), die aber verdeckt bleibt. Als Nächstes kommt die (unbewusste) Entscheidung, den Mangel nicht zu beheben, was aber unterschwellige Ängste auslöst, es nie mehr zu bekommen, was das Mangelgefühl verstärkt. Kommt im Außen ein Mensch dazu, der so aussieht, als hätte er den Mangel nicht oder würde ihn nicht kennen, entsteht das Neidgefühl bis hin zur Missgunst und dem Missgönnen (Einige Menschen verstehen Neid so, dass er immer diese Missgunst beinhaltet. Ich sehe das nicht so. Man kann auch neidisch sein, ohne die Missgunst zu empfinden. Die Missgunst ist noch eine Stufe höher, weist also auf einen noch größeren Mangel hin.)

Die Illusionen

Der Neid speist sich aus weiteren Illusionen und verstärkt diese gleichzeitig – ein Teufelskreis. Einige Illusionen habe ich bereits erwähnt, z. B. die Vorstellung, dass man selbst wieder im Gleichgewicht wäre, wenn jemand weniger Geld hätte oder man selbst mehr. Diese Illusion speist sich aus einer noch grundlegenderen Illusion: Und zwar besteht sie darin, dass man glaubt, dass das Objekt des Neides den Mangel behoben hat oder überhaupt nicht kennt. Letzteres ist schlichtweg falsch. Mangel zu erleben ist eine der grundlegendsten menschlichen Erfahrungen. Jeder Mensch hat Mangelerfahrungen gemacht, auch wenn er in einem Palast aufgewachsen ist. Dass es nicht so wäre, also jemand ganz ohne Mangel lebt, ist unsere Wunschvorstellung, die uns an unseren Neid und an unser Leid bindet und unseren ursprünglichen Mangel verdeckt. Überhaupt dieser Wunsch, nie wieder Mangel zu erleiden und zu spüren – eine horrende und lebensfremde Vorstellung! "Wenn man alle Wünsche sofort erfüllt bekäme und nie wieder einen Mangel, egal an etwas, hätte, wäre man wunschlos glücklich." Was für ein Irrtum! Das Gegenteil wäre der Fall. Es würde einem schlechter und schlechter gehen. Der ursprüngliche Mangel würde sich immer stärker und stärker melden, da keine Ersatzbefriedigung und Wunscherfüllung ihn beheben kann. Man würde immer missmutiger und grolliger werden. Man würde sich wahrscheinlich wundern, warum es einem immer schlechter geht, obwohl man doch alles hat. Es erinnert mich auch an eine Störung, mit der sehr wenige Menschen geboren werden: Man hat kein Schmerzempfinden. So spontan könnte man meinen: O, wie toll! Keine Schmerzen. Das muss klasse sein. Das Leben dieser Menschen ist aber die Hölle. Sie verletzen sich ständig, weil sie keine Schmerzsignale bekommen. Außerdem heilen die Wunden kaum, weil sie nicht spüren, dass sie die betroffene Stelle immer weiter verletzen statt sie zu schonen. Es kommt zu immer schlimmeren Verletzungen bis hin zu Amputationen. In eine ähnliche Richtung geht auch unsere Vorstellung von "Keinen Mangel mehr spüren". Das wäre auch eine Hölle auf Erden.

Die andere Vorstellung besteht darin, dass der Mensch, der das Ziel des Neides wird, diesen Mangel bereits behoben hat. Es kann tatsächlich stimmen. Dieser Mensch hat sich vielleicht mit seinem Ursprungsmangel auseinandergesetzt und ihn behoben. Das bedeutet aber nicht, dass dieser Mensch diesen Mangel nicht mehr spüren kann. Wenn sich das entsprechende Bedürfnis wieder meldet, wird auch dieser Mensch den Mangel wieder spüren, aber nicht mehr so wie damals. Dann spiegelt uns dieser Mensch den Zustand, den wir auch erreichen könnten, wenn wir uns entscheiden würden, uns dem ursprünglichen Mangel zu stellen. Das schmeckt uns aber nicht, denn auch er erinnert uns unbewusst an die ursprüngliche Verletzung. Er hat dann etwas, was wir nicht haben. Das täuscht aber. Wir haben es auch in uns, es ist aber durch unsere (unbewussten) Entscheidungen verdeckt: unsere ursprüngliche Verletzung und Mangelerfahrung sowie die Möglichkeit, sie aus eigener Kraft zu beheben. Die andere Variante dieser Vorstellung ist tatsächlich eine Täuschung: Der Mensch, der das Ziel des Neides ist, hat diesen Mangel nicht behoben und tut nur so. Dann sind sich beide – das Ziel des Neids und der, der beneidet, absolut ähnlich. Nur auf der Handlungsebene sind sie wie 2 Puzzleteile, die ineinandergreifen. Ansonsten sind sie identisch.

Die andere Seite und meine Erfahrung

Wie sieht es auf der anderen Seite aus? Also, wenn man zum Ziel des Neides wird? Ich persönlich kenne diese Position sehr gut. In persönlichen Beziehungen hat mich das häufig beschäftigt, vor allem in Bezug auf die Unstimmigkeit zwischen der Fremd- und der Selbstwahrnehmung. Besonders haben mir die Illusionen wehgetan, wenn jemand, der neidisch auf mich war, mir zu verstehen gab, dass ich es anscheinend besonders leicht habe, kaum / keinen Mangel kenne und mir alles einfach so zufällt. Darauf reagierte ich mit innerem Entsetzen, denn der Abstand zwischen dieser Darstellung und meinem inneren Empfinden hätte nicht größer sein können. Natürlich kenne ich viele und tiefgehende Mangelerfahrungen, besonders zu Beginn meines Lebens, also als etwas, was zutiefst prägend war. Und auch wenn ich viele dieser Erfahrungen bearbeitet habe, erlebe ich immer wieder das Mangelgefühl in meinem Leben. Es gehört einfach zu jedem menschlichen Leben dazu! Ohne es würde ich mich nicht weiterentwickeln oder gut für mich sorgen können! Gleichzeitig weckt der fremde Neid die Erinnerung an eine der ursprünglichen Mangelverletzungen, und zwar nicht so gesehen zu werden, wie man wirklich ist. Letzteres ist das, was jeder Mensch sich wünscht, und was man als Ziel des Neids mal wieder nicht bekommt. Wenn mich jemand beneidet, sieht er mich nicht. Und das kann schmerzen. Mittlerweile bin ich so weit, dass ich auf das Gesehenwerden verzichten kann und stattdessen mich einfach so sehe, wie ich bin: Jemand, der in anderen Mangelgefühle wecken kann und auch eine eigene lange Geschichte damit hat. Und auch jemand, der anderen Wege zeigt, aus Illusionen auszusteigen und die alten Entscheidungen zu seinen Gunsten zu revidieren. Wenn man sich zu seinen Gunsten aus vollem Herzen entscheidet, ist kein Platz für Neid und Missgunst mehr da. Das Problem erledigt sich von alleine. Auch die Illusion, dass jemand es leichter hat und sein Leben besser wäre als das eigene, verschwindet. Wir alle werden mit ähnlichen Herausforderungen und Aufgaben konfrontiert und müssen sie in unserem Leben bewältigen, nur zeigen sie sich anders. Und das ist auch okay so. 

Geht es nur um Neid?

Natürlich nicht! Neid ist hier nur exemplarisch. Ähnliche Zeichnungen und ähnliche Ausführungen ließen sich auch zu den anderen "angereicherten Ängsten" erstellen bzw. aufschreiben, z. B. zu Geiz (Angst, etwas zu verlieren) oder zu Eifersucht (Angst, jemanden zu verlieren) oder zu Gier (Angst, nicht genug zu bekommen). Neid ist ein Phänomen, das die Zusammenhänge besonders verborgen und gleichzeitig besonders direkt aufzeigt. Ich empfehle hierzu auch den Artikel zu Neid von Michael Depner auf seiner Seite "Seele und Gesundheit".

Song-Empfehlung

Ein Klassiker zum Thema Neid! "WOULDN'T IT BE GOOD" von Nik Kershaw: Lyrics-Video.

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Kenne ich das Gefühl von Neid? Wenn ja, in welchen Situationen und mit wem? Auf wen oder worauf bin ich dann neidisch?
  • Kenne ich auch die andere Seite? Also, dass ich beneidet werde? Wie geht es mir dabei? Genieße ich dann den Neid der anderen oder ist er mir eher unangenehm? 
  • Was ist meine Vorstellung: Was fehlt mir in meinem Leben um glücklich und neidfrei zu sein?
  • Bin ich bereit meinem ursprünglichen Mangel auf den Grund zu gehen oder leide ich lieber weiter?
  • Spüre ich die Sehnsucht in mir? Wonach sehne ich mich? Weiß ich das oder spüre ich nur die Sehnsucht? Oder spüre ich nicht einmal die, sondern bin eher in Groll, Missgunst, Angst oder Trauer gefangen? Bin ich bereit, sie abzulegen? Auch auf die Gefahr hin, dass sich erst dann mein wahrer Mangel-Schmerz zeigt?
  • Wie sieht es mit den anderen Angst-Zuständen aus? Der puren Angst? Der Eifersucht, dem Geiz, der Gier? Wie gut kenne ich sie? In welchen Situationen tauchen sie auf? Oder sind sie sogar meine ständigen Begleiter? Wird es vielleicht an der Zeit, sie loszulassen, indem ich mich ihren Ursprüngen stelle?

 

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