Jeder kann zum Mörder werden
Inhaltsverzeichnis
- Der Ursprung des Mordimpulses
- Ehrenmord
- Fallbeispiel: unerklärliche Schuldgefühle
- Das Körpergedächtnis lügt nicht
- Die Konsequenzen
- Jeder kann zum Mörder werden. Jeder ist oder war ein Mörder
- Buch- und Video-Empfehlungen
- Fragen zum Nachforschen und Ergründen
Der Ursprung des Mordimpulses
Mord fängt mit dem Mord an der eigenen Seele an. Der eigene Schmerz wird eingekapselt und verdrängt und stattdessen eine Schutzstruktur, also eine zusätzliche Ego-Struktur, aufgebaut. Kommt es im Leben zu einer Situation, die dieser Schutzstruktur gefährlich wird, setzen häufig andere, z. B. durch die Erziehung erlernte Schutzstrukturen ein. Haben sie eine starke moralische Komponente, fällt die Abwehrreaktion dadurch milder aus oder wird umgekehrt (Das berühmte Herunterschlucken und alle anderen Formen von Auto-Aggressionen gehören dazu). Versagen diese Schutzmechanismen, bleibt nur noch nackte Gewalt übrig. Schreien, schlagen... Und das geht bis zum Mord. Da wir alle über solche Schutzstrukturen verfügen, betreiben wir alle mehr oder weniger Mord an unseren Seelen, indem wir unerwünschte Anteile von uns abspalten. Wenn sie versuchen, doch noch ihren Weg zurück anzutreten, werden sie bedroht und erstickt, gerne auch über eine Außenprojektion. Nur geschieht es heutzutage weniger in körperlichem Sinne, das verbieten dann doch die moralischen Schutzwächter, sondern es artet in psychologische Kriegsführung aus.
Ehrenmord
So ist auch ein Ehrenmord keiner, der die Ehre, sondern einer, der das Ego aufrechterhält bzw. wiederherstellt. Mit Ehre im Sinne der Wahrhaftigkeit und der Ehrlichkeit hat das nichts zu tun. Das gilt auch für Duelle und andere ähnliche Rituale.
Fallbeispiel: unerklärliche Schuldgefühle
Eine Klientin litt an unerklärlichen Schuldgefühlen, die sie versuchte zu eliminieren, indem sie sich am Außen orientierte. Sie versuchte, zu erraten, was andere von ihr erwarten würden, und erfüllte dies auch. Wenn es ihr nicht gelang, hatte sie ein schlechtes Gewissen. Durch die innere Arbeit verbesserten sich sehr viele Dinge in ihrem Leben, dieser Punkt aber belastete sie weiterhin. In der Sitzung erforschten wir ihr aktuelles psychisches System, das bei diesem Thema über zahlreiche Schutzmechanismen verfügten, die alle ineinander griffen. Es misslang uns ein loses Ende zu finden, an dem die Auflösungsarbeit hätte beginnen können. Und so schlug ich ihr vor, ein neues Feld aufzubauen, in dem es nur den Startpunkt und das Ziel gibt. Auf dem Startpunkt stehend ergriff sie eine extreme Aggressionswelle bis hin zu Mordimpulsen. Das kannte sie aus ihren Leben: Sie war dann in solchen Momenten wie ein Pulverfass... Da brauche nur jemand blöde zu kommen und... Natürlich hatte sie auch Angst, Kontrolle über sich zu verlieren und tatsächlich etwas Schlimmes zu tun. Wie im Artikel "Die Sorge ist bereits passiert" beschrieben, ist die Angst vor einem künftigen imaginären Ereignis praktisch immer ein Hinweis, dass so ein ähnliches Ereignis bereits stattgefunden hat. Was ist aber, wenn man es in diesem Leben nicht erlebt hat? Die Klientin hat niemanden ermordet und niemandem Schaden, abgesehen von den alltäglichen psychologischen Schäden, die wir uns alle gegenseitig zufügen, zugefügt. Was dann?
Das Körpergedächtnis lügt nicht
In unserem Körpergedächtnis sind nicht nur Ereignisse und Informationen aus unserem eigenen Leben gespeichert. Die Schuldgefühle können z. B. auch aus dem Familiensystem übernommen sein genauso wie die Information über einen Mord. Vielleicht hat ein Vorfahre jemanden umgebracht? Das war in früheren Zeiten gar nicht einmal so selten. Zum Einen in Kriegen, zum Anderen gab es auch ritualisierte Auseinandersetzungen, wenn ein Ego verletzt wurde, z. B. Duelle oder sog. Ehrenmorde. Auch gab es sicherlich viel mehr Gelegenheit Rache zu üben. Wir können froh sein, dass unsere moralischen Grundfeste mittlerweile so stark sind, dass wir diesen Dingen nicht tagtäglich ausgesetzt sind. Und trotzdem tragen wir alle die Erinnerung und das Potential dazu in uns. Also ist eine Bereinigung angesagt.
Zurück zur Klientin: Wir einigten uns darauf, mit der Hypothese zu arbeiten, dass der Mord in einem früheren Leben geschah. Ob man an Karma, frühere Leben, die Inkarnation usw. glaubt, ist dabei gar nicht so wesentlich. Wesentlich ist die Reaktion des Körpers und des psychischen Systems. Die Klientin willigte ein, weil sie spürte, dass ihr Körper reagierte und sich die fehlenden Puzzle-Teile anfingen zu fügen. Zum ersten Mal war sie auch im Stande ihre Schuldgefühle voll und ganz zu spüren und auch anzunehmen. So rekonstruierten wir die ursprüngliche Situation aus ihrer Körpererinnerung: Die darin abgespeicherte Mörderin hat ein Opfer umgebracht, weil sie in ihrem Ego gekränkt worden ist. Worin genau diese Kränkung bestand, erfuhren wir nicht. Die Klientin hatte die Vorstellung, dass es sich ggf. um Rache (z. B. für getötete Familienmitglieder) handeln könnte. Wichtig war die Aussprache zwischen der Täterin und dem Opfer und die darauf folgende Vergebung. Die Täterin nahm also ihre Schuld an und beschloss auch ihre Strafe anzunehmen (Vor einer Strafe oder einer Verhaftung hatte die Klientin übrigens in ihrem alltäglichen Leben auch Angst, ohne dass sie etwas falsch gemacht hätte!). Die Strafe bestand darin, den Teil ihres Egos zu töten, den sie behalten hatte, indem sie das Opfer tötete. Noch einmal etwas anders ausgedrückt: Das Opfer rührte an das Ego der Täterin an. Die Täterin hatte zwei Möglichkeiten: ihr eigenes Ego töten und sich transformieren oder das Opfer töten und das Ego behalten. Die Täterin entschied sich für Letzteres und litt entsprechend an Schuldgefühlen. Natürlich hatte die Klientin Angst, dass sie als Strafe ins Gefängnis kommen würde, dass man sie also verhaften würde. Was sie nicht merkte: Sie saß bereits im Gefängnis mit all ihren Schuldgefühlen, den Einschränkungen ihrer Lebenskraft, der Orientierung nach außen, nach fremden Erwartungen. Also stellte sie sich ihrer Strafe, die ihre ursprüngliche Aufgabe darstellte, und opferte ihr Ego bzw. den überflüssigen Teil des Egos.
Die Konsequenzen
Was sind nun die Konsequenzen so einer inneren Arbeit? Die Schuldgefühle sind endlich weg. Man fühlt sich befreit und erleichtert. Das Wissen um die eigene mörderische Vergangenheit (ob man ein Menschenleben oder einen Teil der Seele genommen hat, ist für das psychische System eine ähnliche Information bzw. hat die gleiche Symbolik) wird nicht mehr abgetötet, sondern in die eigene Identität integriert. Man fließt mehr mit dem Leben mit und neigt weniger dazu, den Zeigefinger zu erheben (ob bei sich selbst oder bei anderen). Die Wahrscheinlichkeit, erneut zum Täter oder zum Opfer zu werden, sinkt. Die andere Konsequenz besteht darin, sich dem ursprünglichen Schmerz zu stellen, der von Gefühlen und Ereignissen überdeckt worden ist. Das ist wahrscheinlich der schwierigste Part an dem Ganzen. Es besteht aber auch keine Eile. Schritt für Schritt und Schicht für Schicht kommt der Schmerz frei und somit auch die darin gebundene Energie.
Jeder kann zum Mörder werden. Jeder ist oder war ein Mörder.
Dass wir alle Mörder, zumindest an unseren Seelen, sind, erklärt wahrscheinlich die Popularität von Krimis, ob in Buchform oder als Fernsehsendung. So kommt man auch mit der eigenen mörderischen Seite in Kontakt, Sicherheitsabstand inklusive. Oder trauen Sie sich an die Auflösungsarbeit?
Buch- und Video-Empfehlungen
Nahlah Saimeh: Jeder kann zum Mörder werden: Wahre Fälle einer forensischen Psychiaterin
Franz Ruppert: Verwirrte Seelen: Der verborgene Sinn von Psychosen. Grundzüge einer systemischen Psychotraumatologie
Arte-Doku: Urlaub statt Knast - Wie Norwegen Verbrechen ahndet
Fragen zum Nachforschen und Ergründen
- Welchen Anteil / welche Anteile von mir habe ich ermordet? (Um diese Frage zu beantworten, überprüfen Sie, worauf Sie innerlich (und äußerlich) besonders stark reagieren. Wem gegenüber äußern Sie Vorwürfe? Wen oder was mögen Sie überhaupt nicht oder wen oder was hassen Sie sogar?)
- Was sind für mich die schlimmsten Menschen? Die Mörder? Die Vergewaltiger? Die Nazis? Die Betrüger und die Verräter? Kann ich mir vorstellen, dass meine Vorfahren (oder ich selbst in einem anderen Leben) so ein schlimmer Mensch war? Was löst diese Annahme in mir aus? Pure Abwehr? Friedfertige Annahme? Oder etwas dazwischen?
- Bin ich bereit, den Mörder, den Vergewaltiger, den Nazi, den Verräter in mir aufzuspüren und zu integrieren?
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