Männer und Psychotherapie
In der Psychotherapie, in den Aufstellungs- und Fortbildungsseminaren treffe ich v. a. auf Frauen. Vor einigen Monaten erlebte ich eine Überraschung: Ein Seminar, in dem mehr Männer als Frauen anwesend waren. Das wurde von allen Beteiligten als eine positive Entwicklung wahrgenommen. Woher kommt aber dieser Unterschied zwischen der männlichen und weiblichen Beteiligung?
Es scheint für Frauen deutlich einfacher zu sein, sich einzugestehen, dass im Bereich der Emotionen etwas durcheinander geraten ist oder dass sie Hilfe und Begleitung benötigen. Der Satz "Ich bin doch nicht verrückt!" ist weiterhin im sozialen Zusammenleben präsent, und über Therapie spricht man nicht wirklich. Klar – dass man mal eine gemacht hat. Höchstens das. Trotzdem scheint es mir in Bezug auf Männer noch ein Stück tabuisierter zu sein.
Also: Was hindert einige Männer, sich entsprechende Hilfe zu suchen? Sind die Wörter "Hilfe" und "Mann" überhaupt zu vereinbaren? Also nicht so, dass ein Mann aktiv Hilfe leistet, sondern dass er welche braucht und auch annimmt? Das scheint nicht so ganz zum männlichen Selbstbild zu passen, dabei kommen wir alle höchst hilfsbedürftig und abhängig auf die Welt. Auch Arno Gruen schreibt in seinen Büchern viel darüber, wie diese Erfahrung der Hilflosigkeit und Abhängigkeit pervertiert worden ist. Statt – durch die Erfahrung der Liebe und des Angenommenseins in der eigenen Hilflosigkeit – ein empathisches Selbst- und Weltbild zu entwickeln, findet eine Spaltung der Persönlichkeit statt, die auf Macht und Stärke beruht. Stärke ist an dieser Stelle nicht mit der inneren Kraft gleichzusetzen, die sich durch das Erleben der Hilflosigkeit nur steigert und entfaltet. Sie ist das Gegenteil davon: ein Vermeiden, Bestrafen und Verleugnen. Bei den meisten Menschen ist die Spaltung wohl unvollständig, betrifft also nicht die gesamte Persönlichkeit. Sonst wäre es nicht zu erklären, warum Männer sehr liebevolle Väter sein können, und trotzdem knallhart sind, was die Nicht-Beachtung der eigenen Bedürfnisse angeht. Das Gleiche gilt natürlich auch für Frauen, wobei sie – vom gesellschaftlichen Frauenbild her und von ihrer biologischen Anlage her, Leben zu schenken, gesehen – wohl mehr Möglichkeiten haben, empathisch auf sich und die Welt zuzugehen.
Dann besteht der eigentliche Clou darin, dass ein Mann z. B. leidet und eine psychotherapeutische Begleitung braucht. Gleichzeitig hindert das von außen installierte Selbstbild der sog. Stärke ihn daran, für seine Bedürfnisse, auch in Form von Hilfestellung durch andere, zu sorgen. Er hält tapfer durch, bis gar nichts mehr geht.
Ich habe in Erfahrungsberichten von langjährigen Therapeuten gelesen, dass Frauen häufig vorangehen. Sie merken, dass etwas nicht stimmt. In der Paarbeziehung oder grundsätzlich in ihrem Leben. Sie machen die ersten Schritte. Die Partner merken das und stehen vor einer wichtigen Entscheidung: Mitgehen oder da bleiben, wo man ist. Letzteres bedeutet aber häufig das Aus in der Beziehung.
Und was bedeutet das alles für meine eigene psychotherapeutische und beraterische Praxis? Das Verhältnis scheint 1:3 zu sein. Also, auf einen Mann kommen drei Frauen. Und ich denke nicht, dass es daran liegt, dass Männer diese Art von Begleitung weniger brauchen. Oder gehen Männer lieber zu einem männlichen Therapeuten? Das könnten Frauen aber genauso sehen und, wenn sie z. B. eine gute Bindung zu ihrem Vater hatten und eine eher belastete zu ihrer Mutter, ebenfalls einen männlichen Therapeuten vorziehen. Aber auch männliche Kollegen berichten, dass sie mehr Klientinnen als Klienten haben.
Also, was ist zu tun? Eine Riesenwerbekampagne im Fernsehen? "Sei ein Mann, hol dir Hilfe!" Geholfen hat jedenfalls, dass einige Stars (Musiker, Sportler usw.) offen über ihre Geschichten gesprochen haben. Das befördert so etwas wie: "Wenn sie es machen, dann kann und darf ich das auch." Was kann ich persönlich der Tabuisierung entgegensetzen? Mit möglichst vielen Menschen offen darüber sprechen? Dabei ist eine offene Herangehensweise nicht dasselbe wie das offene Sprechen über etwas. Man kann so tun, als würde man über etwas offen sprechen und es ganz toll finden. Im Endeffekt wäre es aber nur eine Art Abwehr: Man gibt sich offen, um die eigentliche Offenheit zu vermeiden. Ein schöner Trick.
Jetzt habe ich mehr Fragen aufgeworfen als Antworten gefunden. Ja, vielleicht ist das der erste Schritt.
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Bild von Engin Akyurt