Unterm Niveau sein – warum nutze ich mein Potential nicht aus?
Inhaltsverzeichnis
- Die Vorgeschichte zum Artikel – wie ich dahinter kam, dass ich mein Potential nicht nutzte
- Erfahrungen von anderen Menschen
- Hat vielleicht jeder von uns dieses Erleben?
- Ich kann das Potential sehen
- Wie befreit man das Potential?
- Warum bleibt jemand unter seinem eigentlichen Niveau?
- Die Entscheidung
- Die Konsequenzen der Entscheidung
- Nachtrag 1 & 2
Die Vorgeschichte zum Artikel – wie ich dahinter kam, dass ich mein Potential nicht nutzte
Vor 2,5 Jahren fing ich wieder mit dem Tennisspielen an. Die Bewegungsabläufe verlernt man nicht. Klar, müssen die Muskeln und v. a. die Sehnen sich wieder an die Belastung gewöhnen. Das ist aber nur eine Frage der Zeit. Auch war es in meiner Kindheit und Jugend so, dass v. a. die Technik trainiert wurde. Das Spielerische war unwichtig. Also musste ich auch spielen lernen. Taktik, Mentales, Spielzüge, Tennis als Schachspiel usw. So weit, so gut. Ich machte gute Fortschritte und trotzdem hatte ich immer wieder den Eindruck, dass ich mein vollstes Potential und Können nicht abrufe, höchstens einen Bruchteil davon. Zu groß war der Unterschied zwischen dem, was ich innerlich als praktisch und theoretisch möglich wahrnahm und dem, was ich auf dem Platz (in Spielsituationen) lieferte. Ich wunderte mich sehr darüber, war ich doch der Überzeugung, dass es mir in meinem sonstigen Leben, z. B. in meinem Beruf, durchaus gelingt, mein Potential und mein Können gut zu nutzen. Also wunderte ich mich weiter und wusste mir nicht wirklich zu helfen, bis...
Ja, dann ging mir ein Licht auf: Mir wurde klar, dass das, was ich auf dem Tennisplatz erlebe, auch auf mein sonstiges Leben zutrifft. Ich habe mich da bloß in einer vermeintlichen Sicherheit so eingerichtet, dass mir diese Diskrepanz zwischen meinem Potential und dem, was ich tatsächlich lebte, nicht einmal auffiel! Was für eine unangenehme Erkenntnis! Ich begab mich dann auf die Suche nach der Ursachen, dazu aber später mehr, weil ich an dieser Stelle erst einmal auf Erfahrungen von anderen Menschen eingehen möchte.
Erfahrungen von anderen Menschen
Auch andere Menschen berichte(te)n mir von einem ähnlichen Erleben, wenn ich ihnen von dieser Erkenntnis erzählte. Hier ein Auszug aus einer E-Mail, die ich neulich mit großer Freude empfing:
„Eine Erfahrung, die du beschreibst, die kenne ich auch. Du schreibst, dass du unter deinem Niveau Tennis gespielt hast. Ich habe das Gefühl, dass ich bisher im Leben insgesamt oft unter meinem Niveau gespielt habe und noch mehr Potential in mir schlummert, aber ich habe auch entdeckt, dass solche Prozesse immer nur scheibchenweise gehen können. Aber endlich, im übertragenen Sinne, auf meinem Niveau Tennis zu spielen, ist meine Sehnsucht. Aber damit wären wir wohl wieder beim Thema Schmerz, Schmerz über das alte Leben und Schmerz, um zu diesem Neuen durchzudringen. Aber ich bin auf dem Weg und froh, dass ich nicht allein bin. Gerade jetzt spüre ich, wie Gott mich trägt auf meinem Weg, die Umwege und die steinigen Wege muss ich aber trotzdem gehen.“
Hat vielleicht jeder von uns dieses Erleben?
Ich wette mal, dass jeder von uns diese Erfahrung kennt. Möglicherweise sind die Wege, damit umzugehen, verschieden. Einige begeben sich auf die Suche, versuchen ihr Potential doch zu wecken und zu nutzen. Andere vertrauen auf Gott. Andere denken: „Dann bin ich halt nicht so talentiert wie xxx...“ Oder alte Glaubenssätze werden aktiv, die einem einreden, man wäre eh ein Versager oder ein Dummkopf.
Ich kann das Potential sehen
Eine Zeit lang war es für mich kaum auszuhalten, dieses Potential in den Menschen zu sehen – ich kann so etwas erspüren – und gleichzeitig zu sehen, wie es brachliegt. Ich fuhr mit der Straßenbahn zur Arbeit und wusste nicht, wohin mit dieser Erkenntnis. Mittlerweile kann ich gelassen damit umgehen: Jeder Mensch hat seinen Weg. Und es ist okay so, wie es ist. Wenn sich jemand auf die Suche nach seinem Potential begibt, freue ich mich natürlich und unterstütze ihn oder sie gern.
Wie befreit man das Potential?
Allerdings ist es etwas komplizierter, als einen Schatz aus dem Garten zu graben. Klar, auch beim Graben macht man sich dreckig. Die schönen sauberen Fingernägel kann man vergessen. Es ist aber nicht – wie in einem psychischen Prozess – mit einem großen Loslassen verbunden. Die Frage und die Herausforderung, was man mit dem Schatz anfängt, stellt sich in beiden Fällen: Liegt er nicht mehr begraben, wird er genutzt werden wollen!
Warum bleibt jemand unter seinem eigentlichen Niveau?
Zuerst aber stelle ich die Grundfrage: Warum bleibt jemand unter seinem Niveau und lebt sein Potential nicht? Die Antwort: Weil er oder sie mit sich selbst nicht (gut) verbunden ist.
Nächste Frage: Warum ist jemand mit sich selbst nicht (gut) verbunden?
Antwort: Weil er oder sie eine Loyalität aufrechterhält, die die Selbstverbindung und das Nutzenkönnen des Potentials untergräbt.
Jedes Mal, wenn ich also unter meinem Niveau Tennis spielte, erfüllte ich die echten oder die vermeintlichen Erwartungen meines Herkunftssystems. Es war höchste Zeit damit aufzuhören! Im Klartext: Hätte ich schon damals mein vollstes Potential gelebt, hätte ich meine Eltern, meine Weltsicht, mein Selbstbild, meine Glaubenssätze, das, wozu ich erzogen worden bin usw. verraten! Dafür habe ich mich und mein Potential verraten. Ein ganz hoher Preis! Warum habe ich ihn gezahlt und zahlte ihn weiterhin? Dieses „Unterm-Niveau-Sein“ gab mir Sicherheit und garantierte mein Überleben. Plakativ ausgedrückt: Hätte ich mehr von mir gezeigt, hätte ich nur noch mehr auf die Mütze bekommen.
Nächste Frage: Ist das immer noch aktuell?
Antwort: Nein, ist es nicht. Allerdings ist das eigene System immer noch so geeicht, als ob die Bedrohung (nicht zu überleben, nicht genug Sicherheit zu haben) immer noch aktuell wäre. Verstößt man dagegen, kommt Stufe 2: schlechtes Gewissen, Schuldgefühle, die es unerträglich machen und den „Vertrag“ Sicherheit gegen Selbstaufgabe erneuern. Nicht umsonst sagte der gute alte Jesper Juul: „Vergraben Sie Ihre Schuldgefühle im Wald!“ Oder es kommt zu einer Selbst-Sabotage: Etwas klappt überhaupt nicht, obwohl man es kann (kenne ich vom Aufschlag) oder man wird auf dem Höhepunkt, wenn einem alles so richtig gut gelingt, plötzlich krank (Da kann ich ein Lied davon singen! Kaum war ich richtig gut drauf, ging die nächste Erkältung los).
Die Entscheidung
So, was ist nun zu tun? Will ich mein Potential leben? Will ich dem näher kommen und dazu stehen? Will ich mich auf die Lernprozesse, die das Potential mit sich bringt, einlassen und es nutzen lernen? Wenn ja, muss die Frage nach der Loyalität zuerst geklärt werden: Wem gegenüber will ich loyal sein? Mir selbst? Oder Mama? Oder Papa? Oder einem alten Glaubenssatz? Dem alten Selbstbild von mir, das besagt, dass ich etwas nicht kann? Eine schwierige Entscheidung, die an die Grundfeste der Persönlichkeit geht.
Die Konsequenzen der Entscheidung
Was passiert dann, wenn ich mich entscheide, zu mir zu stehen und mein Potential zu nutzen? Als Erstes kommt eine Verlusterfahrung. Ich verliere die Sicherheit meines Herkunftssystems, die Sicherheit meines festen Selbst- und Weltbildes. Und ich komme (vielleicht nicht sofort) mit dem Schmerz in Kontakt, mich selbst dafür verraten zu haben. In erster Linie ist es also eine Trauerreaktion. Die Trauer löst aber gleichzeitig die Energie, die in diesem „Deal“ gesteckt hatte. Diese Energie kommt zu mir zurück. Ich erfahre eine neue Form von Lebendigkeit, Gesundheit und Selbstverbundenheit. Der Weg zu meinem Potential ist frei. Es wird sich dann zeigen: Ich werde Lust bekommen, etwas Neues auszuprobieren. Es können banale Dinge sein. Bei mir war das u. a. das Brotbacken mit Sauerteig (Aus dem System gab es die Überzeugung: Ich kann nicht backen und Backen ist ein Buch mit sieben Siegeln). Oder auch sich künstlerisch betätigen (Bei mir war es Gitarrespielen und der Glaubenssatz aus dem Herkunftssystem: Jedes Familienmitglied ist unmusikalisch). Der Tennis-Aufschlag führte mich aber in die ganz tiefen Schichten. Der Aufschlag ist – im Unterschied zu allen anderen Schlägen – eine Aktion, keine Reaktion. Und im Reagieren (Grundschläge – Vorhand / Rückhand) war ich schon immer ziemlich gut. Aber dieser Startimpuls: Da stehe ich und fange etwas an. Und nur ich entscheide, was es ist. Das war richtig schwer! So viele Möglichkeiten, die mich überforderten. Und vor einigen Jahren sogar Black-Outs: Ich stand an der Grundlinie und war dissoziiert: kein Raumgefühl, kein Zeitgefühl, kein Plan. Oder eine Arousal-Reaktion, also eine Übererregung – Zittern, beschleunigter Herzschlag, Schwitzen... Warum? Verdammt noch mal! Es ist nur ein Aufschlag. Jedenfalls führte mich die Beschäftigung mit dem Aufschlag an den Anfang meines Lebens: Will ich leben (und das Sterben riskieren) oder überleben? Solange ich an meiner alten Entscheidung zu überleben festhielt, hielt ich mich auch in Sachen Aufschlag zurück. Ich zeigte meinen Gegnerinnen nicht die volle Kanne (Und mein Aufschlag kann echt schnell und genau sein!) und produzierte auch zahlreiche Doppelfehler. Natürlich hat die Qualität des Aufschlags (wie bei all den anderen Sachen) auch etwas mit dem Können, der Übung und der Routine zu tun. Wenn ich aus der Übung bin, schlage ich logischerweise nicht so genau auf und kann meine maximal mögliche Geschwindigkeit nicht kontrollieren. Gleichzeitig fällt es mir deutlich leichter, diesen Punkt zu akzeptieren und meine menschlichen Grenzen anzuerkennen. Das Potential meldet sich an allen möglichen Stellen zu Wort: Ideen, Bilder, Gedanken, Austausch. Wenn es an die Umsetzung geht, macht es pling – und dann entsteht etwas, was meinem Können und meinem grundsätzlichen Potential entspricht. Und es ist in Ordnung so, wie es ist. Es muss nicht perfekt sein. Und so entwickle ich mich immer weiter. Gleichzeitig war ich bereits mehrmals an dem Punkt der Überforderung: Ich kann und mache schon so viel und es kommt noch mehr Potential und Energie dazu. Das ist doch zu viel für nur eine Person! Dem kann ich niemals gerecht werden! Von außen betrachtet sieht es einfach aus: Wo viel ist, kommt mehr dazu. Wie toll es doch sein muss, dieses Potential und dieses Können zu haben! Ja und nein. Es stellt mich vor neue Aufgaben. Ich vergleiche es mit einem kleinen und einem großen Haus. Hat man ein kleines Haus, hat man weniger Arbeit. Hat man ein großes Haus, braucht man entsprechend mehr Zeit für die Pflege, die Instandhaltung und die Gestaltung. Mit dem freien Weg zum eigenen Potential ist die Arbeit bei Weitem nicht erledigt. In den nächsten Schritten will dieses Potential und diese Energie eingesetzt werden.
Bezogen auf mein berufliches Leben ging es darum, die (vermeintliche) Sicherheit aufzugeben, sprich, die Stelle zu kündigen, und meine eigene Vision „freiRaum“ umzusetzen. Mit all dem Einsatz, all der Leidenschaft und auch all dem Risiko!
Nachtrag 1 & 2
Nachtrag: Man kann sich der Verantwortung, sein Potential zu leben nicht entziehen. Wenn man keinen direkten Zugang dazu hat, wird es sich trotzdem melden, z. B. in Form von Symptomen, Krankheiten, Konflikten. Das Haus bleibt klein, der Keller ist dafür riesengroß.
Nachtrag 2: Es hat viele Vorteile, unter seinem Potential zu leben: Man gehört zur Masse dazu. Alle anderen handhaben es genau so. Es gibt Schutz, denn man sticht nicht hervor. Ferner ist die Gefahr zu scheitern nicht so hoch. Wenn ich nicht nach den Sternen greife, kann ich nicht so tief fallen.
Fragen zum Nachforschen und Ergründen
- Lebe ich mein Potential? Oder bin ich (weit) drunter?
- Wen bewundere ich? Warum? Aufgrund von welchen Eigenschaften? Oder liegt es am Verhalten dieser Menschen? Oder an ihrer Ausstrahlung?
- Welche blockierenden Gedanken habe ich? Welche Zweifel und Ängste zeigen sich? Habe ich Angst, die gewonnene Sicherheit aufs Spiel zu setzen oder sogar ganz zu verlieren, um etwas zu bekommen, wovon ich nicht einmal weiß, was es genau ist?
- Bin ich bereit für Prozesse, die mein Potential freilegen würden? Wenn ja, bin ich dann auch bereit dafür, dass mein Potential seine Entfaltung von mir einfordern wird? Und das auf eine direkte und unmissverständliche Art und Weise? Ein Zurück gibt es dann nicht mehr!
Artikel Teil 2: Unterm Niveau sein - Teil 2