Ur-Wunden und Ur-Kräfte: verletzte Identität
Inhaltsverzeichnis
- Wege, die nur scheinbar aus der Identitätswunde führen
- Identitätsstiftende Entscheidungen
- Die Restangst
- Die Wunde im frühen Erleben
- Der Weg
- Besonderssein aus Einsamkeit
- Fragen zum Nachforschen und Ergründen
Auch die Verletzung der Identität betrifft in unserer Gesellschaft uns alle. Wir tragen Masken, tun Dinge, die uns nicht entsprechen, und leiden darunter, dass wir nicht wissen, wer wir im Kerne sind. Oder wir haben diesen Schmerz so tief in uns vergraben, dass wir nicht einmal merken, dass wir fremde Rollen, fremde Kleider und fremde Gesichter tragen. Und so gibt es verschiedene Möglichkeiten mit der eigenen Identitätsverletzung umzugehen.
Wege, die nur scheinbar aus der Identitätswunde führen
Sicherlich haben Sie schon bei vielen Menschen beobachtet, dass sie sich verstellen. Manchmal ist aber das Fremdartige so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass man es erst dann erkennt, wenn man sehr genau hinsieht. Am ehesten sehen Sie das Fremdartige am Körper eines Menschen. Hat er sich z. B. zu viele fremde Lasten aufgebürdet, so dass sein Rücken nicht mehr gerade ist? Oder versucht er die Identitätslücke durch eine extra Portion Ehrgeiz zu kompensieren und entwickelt sogar ein Hohlkreuz? Übrigens ist es ein weit verbreiteter Umgang mit der Identitätswunde: Man versucht den Schmerz durch besondere Leistungen oder besondere Sichtweisen oder besonderes Aussehen auszugleichen, um sich von der Masse abzuheben. Vielleicht versucht man immer seine (besondere) Meinung durchzudrücken. All dies kann bis zur sichtbaren Arroganz oder sogar Verblendung führen. Man will jemand Besonders sein und verkennt so seine Einzigartigkeit und die der anderen natürlich auch.
In vielen Fällen passiert aber genau das Gegenteil: Der Mensch stellt sein Licht unter den Scheffel, will nicht auffallen, zielt lieber zu niedrig als zu hoch. Das kann sogar bis zur Aufgabe des eigenen Standpunktes führen unter der Last der fremden Meinungen, die auf einen einprasseln. Die berühmte graue Maus ist ein gutes Bild dafür. Oder man lässt Verdrängtes sich so lange ansammeln, dass irgendwann die Blockaden so gewaltig sind, dass nichts mehr geht. Vergleichbar ist es mit einem verstopften Abfluss. Das dreckige Wasser fließt nicht mehr ab. Jeglicher Flow ist endgültig unterbrochen.
Beiden Möglichkeiten, die sich übrigens innerhalb eines Menschen vermischen können, ist die ewige offene oder verdeckte Frustration darüber gemeinsam, dass man die Lücke zwischen dem Ich, das man sein will, und dem Ich, das man ist, nicht schließen kann. Weder auf die eine, noch auf die andere Art wird man diese Lücke schließen können, denn jeder oben beschriebene Umgang damit geht am Schmerz der verlorenen Identität vorbei.
Identitätsstiftende Entscheidungen
Weiß ich denn, wer ich wirklich bin? Tue ich Dinge, weil ich sie schon immer getan habe? Trage ich bestimmte Kleidung, weil ich das schon immer getan habe? Esse ich Gerichte, weil ich sie schon immer gegessen habe? War die Entscheidung, all dies zu tun, wirklich meine? Oder habe ich diesbezüglich noch gar keine eigene Entscheidung getroffen?
Übrigens gibt es einen guten Trick, festzustellen, ob man bezüglich einer Sache, die identitätsstiftend wirkt, eine eigene Entscheidung getroffen hat. Denken Sie an einen Wahl-Bereich Ihres Lebens, z. B. Kleidung, Essen oder Arbeit. Jetzt stellen Sie sich bildlich vor, Sie würden ausprobieren, wie es wäre anders zu essen, sich anders zu kleiden oder einer anderen Arbeit nachzugehen oder was auch immer Sie sonst noch als Beispiel genommen haben. Wie ist Ihre Reaktion darauf? Sind Sie neugierig-interessiert oder einfach nur gelassen? Dann ist Ihr Selbstbild nicht in Gefahr und Ihre Entscheidung war wahrscheinlich Ihre eigene. Reagieren Sie aber mit Abwehr (Das geht doch gar nicht, das passt doch nicht zu mir! Das habe ich so noch nie gemacht! Das ist doch ungesund / schrecklich / ein Knochenjob – was auch immer Ihnen hier an "rationalen" Argumenten einfällt), sitzen Sie wahrscheinlich in einer Identitätsfalle und haben noch keine eigene Entscheidung getroffen. Sie haben höchstwahrscheinlich fremde Wertungen und Urteile übernommen und verkaufen sie für Ihren eigenen Stil. Autsch. Schließlich signalisieren die Angst und die Abwehr, dass das Selbstbild bei einem bloßen Gedanken in Gefahr gerät. Und wenn das so ist, dann stimmt da etwas nicht. Und selbst, wenn Sie auf Ihrem Wege schon weit fortgeschritten ist, Hand aufs Herz: Haben Sie noch Ängste in jeder Situation und mit jedem Menschen voll und ganz Sie selbst zu sein?
Die Restangst
Wichtig ist, sich diese Restangst, die man noch in sich trägt, vor Augen zu führen. Diese Restangst, man selbst zu sein, und zwar frei & vollkommen offen. Vielleicht sieht man sich selbst sogar nicht oder nur Teile von sich / der Welt? Schauen Sie sich um, wie viele Menschen Brillen tragen – ein klarer Hinweis, dass etwas mit unserer Sicht auf uns und die Welt nicht stimmen kann. Hinter dem Nicht-Sehen-Wollen oder dem Verschwommen-Sehen steckt aber auch die ausgelöschte Erinnerung an sich selbst und seine wahre Bestimmung.
Die Wunde im frühen Erleben
Die Wunde der eigenen Identität entsteht in Verknüpfung mit anderen Wunden, z. B. mit einer Nahtoderfahrung oder einer anderen Bedrohung des leiblichen und auch psychischen Wohlen, z. B. mit einer Mutter, die ihre Rolle nicht einnehmen wollte und konnte. So eine leise oder laute Bedrohung des eigenen Lebens von Anfang an macht es dem Menschen schwer, sich mit seiner Identität zu verbinden, da gleichzeitig die alten Bedrohungsgefühle hochkommen, die eine Vernichtung ankündigen. Damals wurde die Beinah-Vernichtung körperlich erlebt. Später verschob sie sich auf die psychische Ebene, z. B. in Form von Ängsten und anderen Abwehrgefühlen, wurde / wird aber auch von körperlichen Symptomen begleitet, z. B. einem erhöhten Stresslevel durch zu viel Adrenalin. Perfekt ist natürlich, wenn man alle Wunden heilt. Da dass ein langer Weg ist, ist es sinnvoll sein, sich auf eine Sache zu konzentrieren. Wenn sich Ihnen die Frage "Wer bin ich wirklich?" stellt, dann konzentrieren Sie sich auf diese Frage. Alles andere wird sich fügen.
Der Weg
Um zu seiner Identität vorzudringen, muss man häufig einige Objekte seiner Lust und Begierde loslassen, die man irrtümlicherweise für identitätsstiftend hält. Das kann eine Freundschaft, ein Gegenstand, eine Gewohnheit oder ein Gedanken-, Gefühl- und Verhaltensmuster sein. Hält man an dieser Pseudoidentität fest aus Angst, selbst sie zu verlieren, oder weil man sie für die echte hält, wird man also nie zu seiner wahren Identität vordringen können. Da beißt sich die Katze in den Schwanz. Es kann aber auch sein, dass das Leben selbst das in die Hand nimmt und einem das geliebte Objekt einfach "nimmt". Spätestens dann hat man keine Wahl mehr. Oder doch? Man kann natürlich auch weiter am verlorenen Objekt festhalten, statt Trauerarbeit zu leisten, sich abzulösen, seine wahre Identität zu entdecken und nach vorne zu blicken. Entdecken ist übrigens das richtige Wort. Im Unterschied zu sonstigen identitätsstiftenden Ideen, Gegenständen und Verhaltensweisen ist die Identität nichts, was man sich konstruiert, sondern ent-deckt. Stellen Sie sich vor, Sie wohnen in einem alten Haus. Die Wände sind verputzt. Sie haben schon immer so gewohnt und wissen nicht, dass sich hinter dem Putz wunderschöne Wände und vielleicht sogar ein Kamin verstecken. Es kann sein, dass Sie weiter so leben und glauben, der Putz ist das, was Ihr Haus (=Ihr Ich) ausmacht. Oder Sie kommen auf die Idee, dass dahinter noch mehr ist. Vielleicht haben Sie eine Ahnung oder Sie erfahren das von jemand anders. Dann kommt die Stunde der Wahrheit. Sie entschließen sich, der Sache auf den Grund zu gehen, nehmen eine Axt in die Hand und.... Ja, Sie müssen die verputzte Wand zerstören. Die Angst scheint berechtigt: Haben Sie danach ein Haus ohne Wände? Machen Sie dann alles kaputt? Sie sammeln Ihren Mut und fangen an zu schwingen. Die ersten Stücke sind ab – nichts zu sehen; alles ist dunkel. Wo Sie schon dabei sind, machen Sie weiter. Langsam kommt etwas Schönes zum Vorschein. Die Farben sind noch etwas blass, wahrscheinlich einfach nur etwas angestaubt. Und dann haben Sie natürlich auch noch etwas an Dreck hochgewirbelt. Der Dreck legt sich und Sie bestaunen Ihre echten Wände. Sie machen sich weiter an die Arbeit und Stück für Stück verwandelt sich Ihr Ich-Haus in ein wahres Schmuckstück, das absolut einmalig und einzigartig ist, dazu noch mit einem wunderschönen wärmenden Kamin. So ausgestattet tanzen Sie dann Ihren Weg entlang mit einem friedvollen Lächeln im Gesicht. Sie leben voll und ganz! Was will man mehr!
Besonderssein aus Einsamkeit
Die verletzte Identität bringt noch weitere Muster mit sich. Ihr Ich-Haus ist in Wahrheit einzigartig und einmalig. Da Sie es noch nicht wissen oder die verputzten Wände noch nicht zerstört haben, versuchen Sie Ihre Einzigartigkeit und Einmaligkeit auf anderen Wegen zu erreichen. Sie stellten früh fest, dass Sie Aufmerksamkeit für besondere Leistungen und sonst auch alles, was sich von der Masse abhob, bekamen, und sie machten diese Erkenntnis zu Ihrer Ersatz-Identität. Sie leisten Besonderes und Außerordentliches (Manche machen das Gegenteil: Lieber gar nichts, also noch viel weniger als die "Masse"). Dahinter steckt eine tiefe Einsamkeit, die wie ein Häufchen Elend zwischen den verputzten Wänden sitzt und immer wieder mit dem latenten Gefühl der Bedrohung, das vielleicht schon zur Basis Ihres Lebensgefühls geworden ist, ringt. Auch die Einsamkeit wird erlöst werden, wenn Sie die Wände einreißen. Mit den Wänden reißen Sie auch die Schutzteile Ihres Egos ein. Ja, sie wurden und werden tatsächlich bedroht und müssen sterben. Aber Sie stellen fest: Sie sind dann lebendiger denn je!
Auch jede Form von Geltungssucht und Anerkanntwerdenwollen wird schwinden und verschwinden. Auch die Geltungssucht hat nur Ihre eigene verletzte Seite verdeckt, hinter der sich wahrscheinlich eine Überraschung versteckt, z. B. eine schüchterne Grundessenz, die zum Geltungssüchtigen so gar nicht zu passen scheint. Die alten Gefühle der Unzulänglichkeit werden also in dem Maße schwinden, wie Sie die eigene Einzigartigkeit akzeptieren, leben und lieben lernen. Und nein, Sie werden Ihre Identität nicht in Worten ausdrücken können: Ich bin dies oder jenes, ich habe dies oder jenes. Das sind alles Ersatzkonstrukte. Sie werden Ihre Identität, die etwas Form- und Zeitloses ist, spüren und sie wird sicherlich durch Ihre Worte durchscheinen. Es wird einen großen qualitativen Sprung in Ihrem Selbstgefühl und in Ihrem Selbstausdruck geben.
Fragen zum Nachforschen und Ergründen
- Habe ich ein klares Gespür dafür, wer ich bin? Oder setze ich meine Identität anhand von Verhaltens-, Denkmustern und anderen äußeren Dingen zusammen? Oder etwas dazwischen?
- Inwiefern habe ich wirklich frei entschieden so zu leben, wie ich lebe? Welche Entscheidungen waren wirklich selbstbestimmt?
- Welche im Artikel erwähnten Muster kommen mir bekannt vor? Die Geltungssucht? Die Einsamkeit? Das Besondersseinwollen bzw. das Erbringen von besonderer Leistung? Das (subtile) Bedrohungsgefühl?
- Habe ich die verputzten Wände bereits eingerissen oder bin ich dabei? Oder traue ich mich noch gar nicht? Oder habe ich hier und heute zum ersten Mal davon gelesen, dass es so etwas gibt?
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