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Das Fundament des Ich

 

Das Ich ist nicht dasselbe wie das Selbst. Bin ich ich selbst? Oder bin ich etwas anderes? Worauf basiert mein Ich? Auf der empathischen Selbstwahrnehmung oder auf Abstraktionen? Wahrscheinlich ist beides dabei, so wie bei den meisten Menschen. Wie kommt das aber und wie lässt sich das Ich und das Selbst sich näher bringen?

Stellen wir uns vor, das Ich lebt in einem Haus. Das Haus hat verschiedene Zimmer, ein Dach, einen Keller. Und vor allem hat es ein Fundament! Was ist aber das Fundament unseres Hauses? Oder steht das Haus gar auf dünnen Stelzen, die jederzeit einzustürzen drohen? Und warum steht es überhaupt auf Stelzen? Ein richtiges Fundament wäre doch viel sicherer und stabiler? Vielleicht hat es aber auch so gut wie gar kein Fundament und steht einfach direkt auf der Erde?

Wie stelle ich mir den Bau so eines Ich-Hauses vor? Ein Kind kommt auf die Welt und in ihm ist bereits alles vorhanden, um sich so ein Ich-Haus mit einem stabilen und tragfähigen Fundament zu bauen. Jetzt stellen wir uns mal vor, dieses Kind kommt in einem Kriegsgebiet auf die Welt. Es mangelt an allem: Es gibt nicht genug Träger und Steine für das Fundament. Und vielleicht auch nicht genug Beton für die Mauern? Vielleicht fehlt es auch an Möbeln und Stoff für eine gemütliche Innenausstattung? Der Strom fällt immer mal wieder aus, so dass nicht genug Licht in den dunklen Stunden da ist und kein warmes Essen auf dem Tisch steht. Vielleicht ist sogar nicht genug Nahrung da. Wie wird so ein Haus aussehen? Menschen sind kreativ! Wir bauen einfach aus dem, was da ist, um zu überleben. Das kann uns auch außerordentlich resilient machen. Bläst starker Wind die Hütte weg, bauen wir uns einfach eine neue (Vorausgesetzt das Fundament ist noch zumindest zum Teil da. Ansonsten war's das.).

Das folgende Bild zeigt die beiden Extreme. In der Realität sind wir Mischkonstruktionen zwischen dem Ich=Selbst-Haus und einer "Kriegshütte" auf Stelzen bzw. ohne Fundament.

 

Das Fundament des Ich

 

Jetzt stellen wir uns mal vor, dass dieses Kind erwachsen geworden ist. Die Kriegszeiten sind vorbei. Es ist relativ sicher und alles – Baumaterial und Nahrung und Strom – ist grundsätzlich verfügbar. Die Diskrepanz zwischen dem, was möglich wäre, und der eigenen "Kriegshütte" ist enorm. Das schmerzt. Ich vermute mal, dass diese Wahrnehmung sich häufig auf einer ganz anderen Ebene äußert: Menschen scheinen, z. B. auf der materiellen Ebene, alles zu haben, was sie sich wünschen, sind aber trotzdem unzufrieden. Die Problematik ist aber auf einer anderen Ebene anzusiedeln als der direkt materiellen. Die Hütte hat man gezwungenermaßen errichtet um zu überleben. Das wirklich eigene Haus ist sie aber nicht. Und in sicheren Zeiten kommt die Erinnerung an diesen großen Überlebenskompromiss: Ja, ich musste mir eine Hütte bauen statt eines stabilen Hauses. Ja, das habe ich gemacht, weil es nicht anders ging. Ich hätte lieber etwas anderes gebaut. Etwas, was mir mehr entspricht. Und etwas, was mich zuverlässig durch das ganze Leben trägt. Es war aber nicht möglich. Autsch...

Was ist also zu tun? Die Hütte abreißen und ein neues Haus bauen? So radikal? Ja und nein. Irgendwo unter der Hütte, wenn man tief genug gräbt, findet man Teile des Fundaments, das bereits vor der Geburt angelegt worden ist. Ja, das klingt nach Drecksarbeit. Und es sieht so aus, als ob man die geliebte Kriegshütte erst einmal ganz schön ramponieren muss. Dabei ist sie so ans Herz gewachsen. Da haben ja auch ganz wichtige Leute mitgeholfen, sie aufzubauen. Puh... Das ist richtig schwer und kostet Überwindung. Und traurig ist es auch. Aber gut, ran an die Arbeit. Unter dem Boden der Hütte kommt aber erst einmal nichts. Nichts? Ja, gar nichts! Und wenn man weiter gräbt, kommt vielleicht wieder nichts und außerdem die Angst, dass, wenn man weiter macht, wieder nichts kommt und man dann nicht einmal so eine Hütte hat. Bei dieser Angst geht es um Leben oder Tod. Das ist die ganze frühe Erfahrung, auf das von Anfang an angelegte Fundament ganz oder teilweise verzichten zu müssen. Es war eine Entscheidung für das Leben. Ein Leben in einer Kriegshütte... Ein Leben, das so nicht mehr gelebt werden muss... Das Fundament muss irgendwo noch da sein, es muss entdeckt werden. Ach ja, da ist es ja. Und heile ist es auch.

 

Fragen zum Nachforschen und Ergründen 

  • Wie sieht mein Ich-Haus aus? Ist eine Kriegshütte? Ein Palast oder eine Villa? Ein solides Haus? Oder vielleicht eins, bei dem die Fassade in Ordnung ist, das Fundament aber marode ist? Gibt es überhaupt ein Fundament oder habe ich v. a. in die Höhe gebaut, um zu beeindrucken oder ein Gefühl von Sicherheit zu imitieren?
  • Was passiert mit meinem Ich-Haus, wenn etwas Wind aufkommt? Und wenn ein Sturm kommt? Oder eine Flut? Oder ein Erdbeben?
  • Lebe ich immer noch in einer "Kriegshütte", obwohl es nicht mehr notwendig ist? Oder bin ich sogar so loyal, dass ich mir solche Lebensumstände schaffe, dass ich weiterhin in einer "Kriegshütte" leben muss?
  • Wie steht es um den Kontakt mit meinem inneren Kern / Fundament? Spüre ich seine Ganzheit, seine Heilkraft, seine universelle bedingungslose Liebe? Ist es etwas, was immer da ist, zumindest im Hintergrund? Oder habe ich den Kontakt zu meinem inneren Kern komplett verloren? Oder ist es mal so, mal so, je nach Situation und Stimmung? Wann ist die Verbindung dazu stärker, wann schwächer? Wer oder was hat Einfluss darauf?
  • Bin ich bereit, mich auf die Entdeckungsreise zu begeben, die mich zurück zu mir selbst und zu meinem eigentlichen Fundament führt, inklusive aller Erfahrungen, die ich bislang in meinem Leben gemacht habe? Bin ich bereit, mich dreckig zu machen und mein Fundament wieder ausbuddeln, auch wenn ich zuerst durch mehrere Schichten graben muss? Will ich der Mensch werden, der ich im Grunde genommen wirklich bin?

 

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Bildnachweis:
Bild von Thomas Wolter