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Feel free to come closer – zur Selbstregulation

 

Inhaltsverzeichnis

 

Es fing mit einem T-Shirt an...

Vor einiger Zeit habe ich mir ein T-Shirt aus den Niederlanden bestellt. Die Aufschrift und die Idee dahinter gefielen mir ausgesprochen gut. "Feel free to come closer" lautete die Parole. Eine Initiative, die den Wert menschlicher Nähe unterstreichen soll, so die Website. Natürlich keine Einladung, wie bei free hugs, sich sofort in die Arme zu fallen, aber ein Zeichen an andere, dass auf mich beim Thema social distancing nicht geachtet werden soll. Die Nähe-Distanz kann sich ganz natürlich regulieren, ohne dass man sich Gedanken machen muss, ob man jetzt zu nah dran ist oder noch nicht. Und was der andere darüber denkt.

Social distancing als Eingriff in die natürliche Regulation

Grundsätzlich bereitet mir das Thema social distancing eine gewisse Sorge. Es soll etwas eingeprägt werden, was von außen gesteuert ist. Dabei halten wir auf eine ganz natürliche Art und Weise mehr Abstand zu uns fremden Personen ein und empfinden das als stimmig. Wenn der Abstand zu klein wird, empfinden wir es als unangenehm und weichen zurück. Dadurch entstehen manchmal komische Situationen, bei denen eine Person schon an der Wand steht und die andere versucht weiterhin näher zu kommen (Anscheinend stimmt mit ihrer Nähe-Distanz-Regulation und ihren Antennen etwas nicht). Uns nahestehenden Menschen kommen wir dann näher. Und das fühlt sich angenehm an. Auf diese Selbstregulation ist Verlass. Durch das sog. social distancing werden eigene Energie und die Aufmerksamkeit nach außen gelenkt. Das hat Konsequenzen. 1) Die Selbstregulation wird außer Kraft gesetzt. 2) Es kostet Energie, so dass man weniger Energie für andere Dinge / für sich hat. 3) Menschen, deren Selbstregulation geschwächt ist und die sich am Außen orientieren, sind leichter zu lenken. Einige Menschen unterstellen daher den Maßnahmenverkündern eine böse Absicht, Menschen gefügig machen zu wollen. Nun sind viele Menschen von ihrer Prägung her sowieso schon gefügig. Daher werden die Maßnahmen und das Narrativ so gut angenommen. Es ist wie eine extra Schicht, die sich darauf legt. Sonst hätten schon viel mehr Menschen viel früher zum Eingriff in ihre Selbstregulation (Und Nähe-Distanz geht wirklich nur etwas die Person selbst und den Beziehungspartner an und niemanden sonst!) Nein gesagt. Stattdessen haben viele den Eingriff begrüßt, er schaffte ja Klarheit und sei zu einem guten Zweck. Er schien ein Gefühl von Kontrolle und manchmal sogar von Erhabenheit zu vermitteln. Das daran etwas nicht ganz stimmte, wurde deutlich, als die Rufe nach Strafen und Bußgeldern lauter wurden.

Wir haben wenig Vertrauen in unsere Selbstregulation und suchen nach Lösungen im Außen statt in uns, deswegen kommen unsere Bedürfnisse und der Austausch mit der Umwelt zu kurz

Im Umkehrschluss heißt es, dass wir ganz schön wenig Vertrauen in unsere Selbstregulation haben und grundsätzlich in die selbstregulativen Kräfte. Selbstregulation setzt ja auch Momente voraus, in denen das Chaos-Prinzip herrscht. Das ist wie bei einer altmodischen Waage. Man stellt etwas darauf und dann muss man warten, bis die sich eingependelt hat. Mal wird ein zu hohes, mal ein zu niedriges Gewicht angezeigt, die Waage nähert sich dem richtigen Ergebnis – und voilà. Für diesen Prozess braucht es etwas Vertrauen und Geduld. Es wäre töricht, voreilig einzugreifen und zu versuchen den Zeiger zu stoppen, nur weil er im ersten Moment einen falschen Wert – zu hoch oder zu niedrig – anzeigt. Aber anscheinend machen wir jetzt genau das bei der Nähe-Distanz-Regulation. Wer 2 Menschen während eines Gesprächs genau beobachtet, wird sehen, dass auch da solche Pendelbewegungen stattfinden. Anders als bei der Waage, die zum Stillstand kommt, wird der Abstand immer wieder neu reguliert, je nach Thema, Sympathie usw. Stehen wir zu weit weg, weil wir das rational beschlossen haben, kann dieser fein abgestimmte Prozess nicht mehr stattfinden. Uns gehen wichtige Informationen verloren und (!) möglicherweise die Erfüllung eines Nähebedürfnisses. Was für ein Verlust! Das wirklich Schlimme dabei ist, dass wir theoretisch lernen könnten, auf dieses Bedürfnis ganz zu verzichten, indem wir es verdrängen. So werden wir immer mehr zu Maschinen, die einfach nur funktionieren. Eine Maschine hat ja auch keine Nähe-Distanz-Regulation. Ein Kühlschrank steht in einem bestimmten Abstand zur Wand oder zu einem Schrank. So dass die warme Luft entweichen kann. Seine Funktion kann gut erfüllt werden. Fertig! Nun, wenn ich auch Abluft produziere, bin ich trotzdem kein Kühlschrank und habe auch Nähebedürfnisse. Man könnte einwenden, sie könne man sich dann mit der Familie erfüllen. Nicht jeder hat eine Familie. Sehr viele Menschen leben alleine. Außerdem brauchen wir Menschen ein Netzwerk von Bekannten und Freunden, die uns mehr oder weniger nahe stehen, um uns wohl zu fühlen. Von ihnen beziehen wir unsere Informationen über die Umwelt und ihren Zustand.

Wie lässt sich die natürliche Regulation wiederherstellen?

Was brauchen wir also um unserer Selbstregulation (wieder) besser vertrauen zu können? Wie bei dem Beispiel mit der Waage braucht es Geduld und Vertrauen. Die Waage schlägt im ersten Moment aus, Angst und Panik kapern das Gehirn, alte Überlebensmuster werden aktiv. Also, tief durchatmen und diesen Raum, in dem sich etwas einpendelt, aushalten. Was das eigene Gewicht angeht, kann das Einpendeln Monate andauern. Man lernt in der Zeit auf seine Hunger- und Sättigungsgefühle zu hören. Das Gewicht kann auch erst einmal nach oben gehen – kein Grund für Kontrollmaßnahmen; damit unterbricht man nur die Selbstregulation. Irgendwann wird es wieder nach unten gehen, sofern man an seiner Gesamtselbstregulation, z. B. auch in einer Therapie, arbeitet. Die Schwankungen werden immer kleiner, aber sie werden nie aufhören. Mal isst man mehr, mal weniger. Im Winter wiegt man vielleicht mehr als im Sommer. Ein Mensch ist keine Maschine. Schwankungen sind normal und sogar wichtig. Das Gleiche gilt für Nähe-Distanz. Der Körper wird schon melden, wenn wir jemandem zu nahe / nicht nahe genug kommen. Wir können auch die Zeichen des anderen gut lesen, es entsteht eine Art Tanz aus Annäherung und Abstandsvergrößerung. Wer dabei sich selbst von der Meta-Ebene beobachtet, wird einige überraschende Erkenntnisse gewinnen.

Fazit

Die Selbstregulation ist ein fein abgestimmtes System, das für die Erfüllung unserer Bedürfnisse und einen konstruktiven Austausch mit der Umwelt sorgt. Jeder Eingriff in dieses System, z. B. über das Abstandsgebot, muss sehr sorgfältig abgewogen und nach Möglichkeit ganz vermieden werden. Dass wir solche Eingriffe (Abstandsgebote, Medikamente, Wecker, Waagen usw.) für so selbstverständlich halten und auch hinnehmen, ist ein Zeichen unserer gestörten Selbstregulation und im Endeffekt auch einer Beziehung zu sich selbst, die durch ein Abstandsgebot gekennzeichnet ist. Es wird höchste Zeit, dies zu ändern!

 

Weitere Fragen zum Nachforschen und Ergründen

  • Wie sieht es mit meiner Selbstregulation aus? Bin ich gut selbstreguliert? Vertraue ich darauf, dass mein Gleichgewicht sich von alleine wiederherstellt, wenn ich etwas aus der Balance gerate? Oder greife ich bei Bedarf oder regelmäßig zu Hilfsmitteln, wie z. B. Essen, Käufe, Sex, Alkohol und andere Drogen usw.?
  • An wen kann ich mich wenden, wenn meine Selbstregulation mal aussetzt oder ein großes Thema auftaucht? Gibt es im privaten Bereich Menschen, die mich bedingungslos unterstützen und denen ich mich anvertrauen kann? Habe ich eine professionelle Anlaufstelle für meine Themen?
  • Wie handhabe ich es mit der Nähe-/Distanz-Regulation? Vertraue ich da auf meinen Instinkt und äußere auch mein Unbehagen, indem ich z. B. um mehr Abstand bitte, wenn mir jemand zu nahe kommt, z. B. in den öffentlichen Verkehrsmitteln? Oder versuche ich es zu ignorieren, nach dem Motto: "Ist ja nur für 10 Minuten"?
  • Was ist mit dem Thema "Gewicht"? Versuche ich mein Gewicht, z. B. mithilfe einer Waage, einer Diät usw., zu kontrollieren? Oder reguliert sich mein Gewicht von alleine? Höre ich wirklich auf meine Hunger- und Sättigungsgefühle?
  • Kenne ich mein ideales Gewicht (nicht von der kg-Zahl her, sondern vom Gefühl her), das übrigens nichts mit den kulturellen und gesellschaftlichen Bildern des idealen Gewichts zu tun hat, sondern höchst individuell und lebenssituationsabhängig ist? Falls ich ein hohes Gewicht habe: Trage ich zu viele Lasten / zu viele Pflichten? Arbeite ich für zwei? Gehe ich gut auf meine emotionalen Bedürfnisse ein? Führe ich mir auch seelisches Futter zu oder ersetze ich es durch leibliches Essen?
  • Habe ich ein grundsätzliches Vertrauen in die selbstregulativen Kräfte? Vertraue ich darauf, dass sich mein Gleichgewicht von alleine nach einiger Zeit wiederherstellt? Oder greife ich zuvor und versuche Kontrolle auszuüben, das Pendel vorzeitig zur Umkehr zu zwingen?
  • Habe ich ein grundsätzliches Vertrauen in das Leben? Sorgt das Leben gut für mich? Werde ich immer genug haben? Oder habe ich da Zweifel oder sogar Mangelgefühle? Versuche ich diesbezüglich Kontrolle auszuüben? Oder wehre ich die Zweifel gern ab? Versuche ich die Mangelgefühle zu betäuben oder durch Ersatzbefriedigungen zu stillen?

 

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