Persönliches zur Coronakrise
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Im Laufe der Coronakrise habe ich mich viel zu den tagesaktuellen Themen geäußert, u. a. auch auf einer Demonstration, aber nie auf meiner Praxis-Website, auch wenn meine Haltung sicherlich auf anderen Ebenen deutlich wird: Freiheit, Selbst-Bestimmung, Versöhnung mit dem Tod, Angstfreiheit im Leben, Flow, Rhythmus, Loslassen. Im Praxis-Blog hatte das Thema auch nichts weiter zu suchen: Therapie ist Therapie. Und Politik ist Politik. In letzter Zeit reifte doch der Wunsch, mich persönlich und fachlich dazu zu äußern, um sichtbar zu machen, wofür und wo ich stehe und um diese Ebenen zu verbinden. Vielleicht ist Therapie mittlerweile auch politisch geworden... Was bin ich tief im Inneren? Ein Demokrat oder ein autoritär geprägter Mensch? Oder eine Mischung? Mit den bewussten Überzeugungen hat diese Feststellung übrigens nichts zu tun. Die Wahrheit zeigt sich in der Krise: Rufe ich nach Strafen für alle, die die Regeln nicht befolgen, bin ich sicherlich stark autoritär geprägt. Bin ich trotz Krise offen für andere Ansichten und auf Wahrheitssuche? Dann bin ich sehr wahrscheinlich stark demokratisch geprägt. Die Therapie hilft dann, die innere Demokratisierung voranzutreiben und die alten autoritären Anteile außer Kraft zu setzen. Der Schwerpunkt dieses Artikels liegt aber auf der autoritären Prägung, denn sie nimmt zurzeit im gesellschaftlichen und politischen Geschehen überhand.
Der „Sumpf“
Der „Sumpf“ – das ist mein Arbeitsbegriff für die psychischen autoritär geprägten Anteile, die Deals machen auf Kosten der Integrität und die meist eng beieinanderstehen, wie man es in der Aufstellungsarbeit sieht (Nichts gegen echte Sümpfe als Öko-System! Es geht v. a. um das Bild des Versinkens, des Verfalls, des Nichtrauskommens, des Nicht-Lebendigen...). Für manche Menschen kann es sich dort sogar geborgen, sicher, kraftvoll usw. anfühlen, was aber einer Verdrehung gleichkommt. Aus Gewalt wird Geborgenheit. Aus Willkür Sicherheit. Aus Machtmissbrauch Kraft. Das ist eine Überlebenstaktik, die die Unterwerfung cachiert. Deckt man sie auf, kommt man meist mit Ekelgefühlen und Übelkeit in Kontakt, denn dem Sumpf liegt eine massive Grenzüberschreitung zugrunde. Der Kern der Unterwerfung besteht darin, dass man einen Hauptdeal eingeht: Man verkauft seinen Wert, seine Würde, seine Integrität, schiebt sie weg, um dazuzugehören und zu überleben. Der Preis, den man dafür bekommt, ist das Überleben und die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Dadurch entwertet man sich selbst und das Leben. Allerdings bietet die Gruppe häufig einen Ausgleich dafür: eine moralische Überlegenheit. Es kann die Kultur, die Religion, die Nationalität, das Gutmenschentum usw. sein. Man ist dann nicht mehr auf Augenhöhe. Nicht mit sich selbst, nicht mit den Mitmenschen, nicht mit dem Leben. Man ist entweder drüber oder drunter.
Nach Schätzungen von Arno Gruen leben wir seit 6.000 bis 8.000 Jahren in solchen psychischen Sumpf-Strukturen. Man kann es auch als „Patriarchat“ bezeichnen. Oder als Kultur und Politik, die auf Machtgefälle und Machtmissbrauch basiert und es häufig als Güte und Fürsorge verkauft. In den letzten Jahrhunderten gab es immer wieder Bestrebungen, den Sumpf zurückzudrängen und freien Strukturen zur Entfaltung zu verhelfen. Das ist auch im Grundgesetz mit dem Artikel zur Unantastbarkeit der Würde verankert. Leider steht es nur auf Papier, denn gelebt wird es lange nicht. Durch die Corona-Maßnahmen hat sich die Entsprechung von Papier und Leben sogar weiter reduziert.
Warum verlassen wir den Sumpf einfach nicht und werden frei? Die freien selbstbestimmten und empathischen Strukturen sind in uns allen angelegt, sie sind unsere menschliche Grundausstattung. Sie sind im Moment der Empfängnis da und warten nur darauf, sich entfalten und zeigen zu dürfen. Leider bekommen viele Menschen schon so früh im Leben die Information, dass sie mit ihrem ganzen Wesen nicht erwünscht sind. Sie sollen sich anpassen, Teile von sich wegsperren, ihr vollstes Potential nicht leben – das wäre alles egoistisch und auch viel zu gefährlich. Man nimmt an, dass eine Gesellschaft von wirklich freien Individuen in Anarchie oder Gewalt münden würde. Das Gegenteil ist der Fall. Die Selbst-Unterdrückung erzeugt Spannung. Wenn die Spannung nicht auszuhalten ist, mündet sie in Gewalt – gegen sich oder gegen andere. So lassen sich auch die Corona-Maßnahmen erklären: Dass ein Virus jetzt die Illusion eines kontrollierbaren Lebens stört und die Vergänglichkeit und die Unbedeutsamkeit eines menschlichen Wesens vor Augen führt, darf auf keinen Fall erkannt werden. Stattdessen kontrolliert man, testet man, zählt man; der Fokus verengt sich, die Angst macht sich breit. Der Neo-Cortex schaltet sich ab; die „niederen“ Gehirnregionen (das sog. Reptilienhirn) übernehmen. Während der Neo-Cortex noch ein ziemlicher Demokrat sein kann, ist das Reptilienhirn bei den meisten Menschen stark sumpf-bestimmt. Die Rufe nach dem starken Mann oder der starken Frau werden laut, ebenso die Rufe nach Bestrafung, Verboten und Geboten, Bußgeldern, nach der Verfolgung Andersdenkender.
Ich und der „Sumpf“
Es gab Menschen in meiner ex-Familie (Ja, ex, denn ich habe mich vor etlichen Jahren von dieser Familie getrennt; ich hatte mich da auch von Anfang an fremd gefühlt, wie adoptiert, obwohl die biologischen Tatsachen stimmten.), die durch das System sehr profitierten (UdSSR). Der eine Großvater war Lehrer und Lehrbuchautor, gut im System verankert. Er starb an einem Herzinfarkt, ziemlich früh. Der andere Großvater war Diplomat mit KGB-Verbindungen (auch Mittelsmann...). Eine große Wohnung in einer guten Gegend, Auslandsaufenthalte, keine Geldsorgen etc. waren die Vorteile. Ein Sowjet-Dream... Ein Waisenkind aus einem Dorf, das es in der Hauptstadt weit gebracht hat. Die Elterngeneration, also deren Kinder, haben in ihrer Jugend ein Stück rebelliert, waren keine Parteimiglieder (Immerhin! Man hat weniger Gehalt bekommen, hatte weniger Möglichkeiten), haben auf dem Schwarzmarkt westliche Musik gekauft usw., haben sich aber im Laufe ihres Lebens doch ziemlich angepasst, wahrscheinlich weil die Urängste mit der Zeit immer wieder reaktiviert wurden, meist durch Verlusterfahrungen, ob Geldverlust / Finanzkrise / die Perestroika, Todesfälle, Krankheiten oder andere Geschichten. Jedenfalls wurde mir da ein ganz schöner Sumpf vererbt. Vor 6 Jahren machte ich mich an die Arbeit: Was gehört zu mir? Was zur Familie? Was ist kollektiv, z. B. noch aus der alten Erfahrung der Leibeigenschaft? Was ist wirklich nur Eigenes? Sehr erleichternd und sehr befreiend. Viele Symptome gingen weg oder verschwanden ganz. Ich konnte Menschen mit Vertrauen statt mit Misstrauen begegnen. Ich erlebte Beziehungen als innig und nah. Ich habe einige Talente in mir entdeckt. Als ich mit dem Gröbsten durch war und eine eigene Praxis für diese Arbeit gründete, kamen die Corona-Maßnahmen. Schlechtes Timing? Gutes Timing? Corona hat etwas von einer Apokalypse in der ursprünglichen griechischen Bedeutung einer Enthüllung. Alles wird sichtbar. Alles wird klar und deutlich. Der Sumpf kommt an die Oberfläche, ob in der Politik, in der Gesellschaft oder in einer Beziehung. Segen und Fluch zugleich. Ich habe für mich entschieden, meine Auseinandersetzung auf einem neuen Level fortzusetzen, diesmal aus einem deutlich befreiteren Zustand heraus, innen wie außen. Dabei hatte ich mich ursprünglich mit dem Umzug von Russland nach Deutschland auf ein ruhiges un-politisches Leben eingestellt. Tja, das gibt es jetzt nicht mehr!
Den Sumpf trockenlegen
Was wäre also das Ziel? Den Sumpf trockenzulegen? Ich weiß nicht, ob das möglich ist. Ich weiß nur, dass man die alten Loyalitäten auflösen kann und dort aussteigen. Die Alternative ist das Leben selbst. Die eigene Lebenskraft, das Selbst.
Das hört sich so einfach an, ist es aber nicht. Letzten Endes ist es der geliebte Sumpf: Als Kind steigt man da bereitwillig ein. Aus Liebe. Als Überlebensstrategie.
Corona-Maßnahmen und freiRaum
Übrigens spielen die Ansichten zu den Corona-Maßnahmen in der Praxis überhaupt keine Rolle. Die Menschen kommen mit ihrem Anliegen und mit ihrem Auftrag an mich, sie zu begleiten. Das wird dann erledigt. Ob jemand pro, contra, dazwischen oder was auch immer ist, ist für die Arbeit im freiRaum irrelevant. Meinungen, Ansichten, die Perspektive – das alles gerät in den Hintergrund. Im Vordergrund stehen dann die Lebensthemen: der eigene Kern, die Lebenskraft, die Erfahrungen, die Talente. Und natürlich zeigt sich immer wieder der „Sumpf“. Ich kläre die Klienten darüber auf und biete ihnen an, aus dem Sumpf auszusteigen. Einige verlassen ihn. Einige haben Schwierigkeiten, sich zu trennen, und gehen den Prozess in kleineren Schritten. So oder so machen mir diese Prozesse Hoffnung. Jeder, der aus dem Sumpf gestiegen ist, strahlt anders. Seine Augen leuchten, der Rücken wird gerader. Seine Worte werden klarer. Der Mensch wird aufrechter, aufrichtiger. Er kann andere Menschen anstecken und in ihnen die Auseinandersetzung mit dem Sumpf anstoßen. Alleine durch seine Anwesenheit. „No hope for the human race“ - stimmt also nicht? Ich weiß es nicht, habe aber weiterhin die Hoffnung, dass wir nicht nur einzeln, sondern auch kollektiv den Sumpf verlassen können, so dass wir uns im Leben und in seinen Rhythmen wieder wie Fische im Wasser fühlen.
Bildnachweis:
Bild 1 von Sascha Fritz
Bild 2 von GLady
Nachtrag: Hier ist ein Beispiel für einen"Sumpf" aus einer persönlichen Arbeit von mir. Symbolischerweise befinden sich die Anteile alle auf einem braunen Teppich. Sie sind außerdem alle sehr eng beieinander und bereiten viele unangenehme Körpergefühle. Es gibt Verbindungen zu Bindungstraumata (Mutter), zu Existenz- oder Gewalttraumata (Erstarrung!) und einiges an vorsprachlichen Erfahrungen (die dafür typischen Körpergefühle - Übelkeit, Knoten im Magen, Kopfdruck). Außerdem gibt es eine Verbindung zum kollektiven Feld, in diesem Falle zur Erfahrung des Sklavenseins, sowie Sonne (Überhitzung) und Schatten (Erleichterung, die keine wirkliche ist) in ihren destruktiven Extremen. Der Deal steht für den Integritätsverlust und den Überlebenspreis.